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provisional

Philip Pocock

Marcel Proust beginnt seine Trilogie »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« im Bett. Bereits im ersten Satz erzählt er:

          (»Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.«)

Passagen aus der Autobiographie des Autors, die sich mit dem Schlaf befassen, eignen sich, den Eindruck der Abgeschiedenheit und der Flüchtigkeit zu beschreiben, der sich beim Betrachten dieser fotografisch festgehaltenen Schlafstellen einstellt. Prousts ganz persönliche Offenbarungen wirken wie schriftliche Schnappschüsse, die Hubers Obsessionen mit Sätzen wie diesen unterstreichen:

          (»Dank einem kurzen, bewußten Augenblick den Schlaf genießen, in dem die Möbel, das Zimmer lagen.«)

          (»Der Schlafende spannt in einem Kreise, um sich den Ablauf der Stunden, die Ordnung der Jahre und der Welten aus.«)

und erwachend:

          (»Es kreiste in der Finsternis alles um mich her, die Dinge, die Länder, die Jahre.«)

Dinge, Orte, Jahre: Dies sind die Eintragungen ins Tagebuch. Schlafzimmerfotografien: von zu Hause, aus Hotels und von anderen provisorischen Schlafstätten. Die grobkörnigen Bilder dieser Ausstellung machen wie ein Film private Geschichten zu einer öffentlichen Angelegenheit. Von allen Wänden der Galerie blicken uns gleichzeitig die Dokumente einer Art Reisebericht durch verschiedene Schlafstätten an.

Ihre physische Ausdehnung in den Raum - durch das Umreißen bettstattgroßer Flächen mit Klebeband - läßt die Galerie wie eine Art Asylbewerberheim erscheinen. Die im gesamten Raum verteilten Klebebänder lassen die Fotos über sich hinaus einen namenlosen, öffentlichen Platz schaffen. Das Private zeigt sich als Abstraktes, außerhalb der fiktiven Zone Hubers privater Räume. Politische Szenerien, allgemein bekannte Archetypen sind mit Klebeband auf Wänden und Boden dargestellt - mehrere Umrisse von Schlafstätten bilden drei Reihen auf dem Boden und an den Wänden. Eine Notschlafstelle? Eine Nacht in einem New Yorker Gefängnis? Krieg in Jugoslawien?

Die Installation verdeutlicht das konkrete Chaos, das dem Ich eigen ist; unbeständig, unruhig, außerhalb jeder Einflußnahme. Die Fotografien, persönliche Erinnerungen an die Orte, an denen er die Nacht verbrachte, bleiben privat, wirklich alleine zugebrachte Zeit, in der die Uhren des Gedächtnisses tief in uns zu ticken beginnen. Der Riese Prokrustes, der von einer sterblichen Mutter geborene Sohn Neptuns, lockte ahnungslose Reisende in sein Bett und kettete sie an die eherne Schlafstatt. Waren sie zu lang oder zu breit, schnitt er ihnen die überhängenden Glieder ab; waren sie zu kurz, streckte er sie auf sadistische Weise bis sie paßten. Der Mythos seines Bettes macht klar, wie sehr politische und erotische Gelüste miteinander in Verbindung stehen.

Prokrustianische Betten tauchen täglich in den Zeitungen auf: Feldbetten in Flüchtlingslagern, in Obdachlosenunterkünften, an Verbrechensschauplätzen, bei Naturkatastrophen - immer dann, wenn Menschen behelfsmäßige Unterkünfte in Jordanien, Somalia, Deutschland oder auch anderswo zugewiesen bekommen. Irgendwann wirken sie alle gleich, wie die Gesichter der Opfer und Mörder bei Christian Boltanski, jeder wird auf erschreckende Weise in einen einzigen, nachgerade puren Zustand homogenisiert - völlige Gleichheit.

(übersetzung: Bettina Gruber/Elisabeth Schweins)